Morgens, 5.45 Uhr
Dienstbeginn für die beiden Lokrangierführer Andreas Fürst und Jürgen Stadler. Zusammen mit dem Eisenbahnbetriebsleiter Thorsten Kellner besprechen sie den Dienstplan für die heutige Frühschicht. Und der hat es in sich. Für die nächsten acht Stunden sieht der Rangierbetrieb im Werk jede Menge Aufgaben vor. Bereits auf dem Weg zum Arbeitsgerät kontaktiert Andreas Fürst mit dem Diensthandy den Kollegen der Deutschen Bahn. Der "Neumarkter" rollt in einer Stunde mit Zementsilo-Containern im Schlepptau an, die von zwei Zementwerken im nordrhein-westfälischen Geseke und Ennigerloh kommen. Bis dahin müssen neue Tübbingwaggons für den Bözbergtunnel, die während der letzten Spätschicht am Vortag beladen wurden, am mittleren Gleis der Vorstellgruppe bereitstehen. Diese wird der Zugführer termingerecht wieder Richtung Neumarkt i. d. OPf. mitnehmen, von wo aus die Tübbings dann ihre lange Fahrt zur Tunnelbaustelle in der Schweiz antreten. Keine Zeit zum Trödeln.
Vor dem Start ein kurzer Check
Im Licht der ersten Sonnenstrahlen, die sich an diesem trüben Tag durch die dichte Wolkendecke kämpfen, erreichen die Lokrangierführer ihr wichtigstes Arbeitsinstrument: die Werklok V76 055, das neueste Schmuckstück im Fuhrpark der Transport und Geräte. Während Jürgen Stadler eine optische Sicherheitsüberprüfung vornimmt, insbesondere ob sich irgendetwas gelockert hat oder Leckagen aufgetreten sind, nimmt Andreas Fürst den Strom von der Lokomotive. Diese steht über Nacht unter Strom, damit das Kühlwasser auf rund 40 Grad vorgewärmt und der Motor vorgeheizt wird. Als Nächstes aktiviert der ehemalige Lagerplatzarbeiter, der seit fünf Jahren den Klasse-1-Lokführerschein besitzt, im Führerstand den Hauptstromschalter und gibt den Luftstrom für die Lok frei. Noch ein prüfender Blick auf den Motoröl- und Kühlwasserstand, dann schaltet Andreas Fürst die Rundumleuchte und die Signallichter ein und startet den 764 PS starken Caterpillar-Motor der diesel-hydraulisch angetriebenen Rangierlok.
Bahn frei für die Werklok
Bis er allerdings losrollen kann, dauert es noch rund zehn Minuten. Das seit Anfang Oktober bei Max Bögl in Dienst gestellte stählerne Kraftpaket muss erst einen Arbeitsdruck von 10 Bar aufbauen, um über genügend Speicherkapazität zum Bremsen zu verfügen. Mittlerweile hat die Lok ihre Betriebstemperatur von 60 Grad erreicht. Andreas Fürst schiebt den Fahrhebel langsam nach vorne und beschleunigt den Koloss. Sofort setzen sich die drei Achsen in Bewegung. Nach rund 200 Metern Fahrtstrecke meldet sich Jürgen Stadler per Funk. Als Einweiser ist er vorausgelaufen. Dort steht ein einzelner Tübbingwaggon, der erstmal zur Seite gestellt werden muss. "20 Meter noch bis zum Waggon, 15 Meter, langsamer werden", tönt die Stimme von Jürgen Stadler aus dem Funksprechgerät. Andreas Fürst bremst das 66-Tonnen-Gefährt soweit ab, dass die Puffer von Lok und Waggon mit einem leichten Ruck zusammenprallen und die automatische Kupplung einrastet. Schon taucht Jürgen Stadler unter den Puffern hindurch aufs Gleis und verbindet mit einem geschickten Handgriff die Bremsschläuche. Dann gibt er das Kommando zur Weiterfahrt. Der Waggon kann zur weiteren Beladung von Tübbings aufs Seitengleis umgesetzt werden.
Erst denken, dann fahren
Ist der Weg frei, rollt die V76 055 über das im Werksjargon genannte "neue Gleis" Richtung Tor 3 zur Abstellgruppe. Zuvor hat sie drei Tübbingwaggons angehängt und Andreas Fürst rangiert diese jetzt aufs mittlere Gleis zur bereitstehenden Waggongruppe. Gegenüber wartet schon der "Neumarkter" mit den Zementsilo-Containern, wertvoller Rohstoff für die Fertigung von Tübbings, Betonfertigteilen, Betonringen für die Hybridtürme und vieles mehr. Nach kurzer Abstimmung mit dem Neumarkter Lokrangier-Kollegen von DB Cargo rollt dieser in Leerfahrt über das "neue Gleis" ins Werk. Mit der Rohstofffracht schiebt Andreas Fürst am "alten Gleis" vorbei, sodass der "Neumarkter" wieder das Werk verlassen, die Waggongruppe mit Tübbings anhängen und in den knapp sechs Kilometer entfernten Bahnhof Neumarkt i. d. OPf. zurückfahren kann. Die Herausforderung für die Lokführer ist es, aufgrund der begrenzten Gleise stets die optimalen Rangierwege zu finden. Wichtig gerade in Spitzenzeiten, wenn bis zu 70 Waggons im Werk bewegt werden müssen. Da muss man sich schon genau überlegen, wie zu rangieren ist, damit man die Lok nicht auf dem Gleis "totstellt".
Teamarbeit mit großer Verantwortung
So geht es Stunde um Stunde weiter. Waggons werden hin- und herrangiert und zu Gruppen zusammengestellt. Dort müssen Bahnschwellen und Tübbings verladen werden, beim Stahlbaugebäude Stahlträger und Stahlbleche abgeladen werden. Auch die Tchibo-Container, die jeden Samstag mit der ehemaligen DB-Lok V60 608 zum Bahnhof nach Neumarkt i. d. OPf. transportiert werden (die neue Werklok hat vor Kurzem ebenfalls die finale Zulassung für das öffentliche Streckennetz erhalten), sind bereitzustellen. Während des Rangierens wechseln Andreas Fürst und Jürgen Stadler zwischen beiden Rangierloks hin und her. Bis auf Ausnahmefälle darf im Werk nur mit einer Lok gefahren werden. Beide sind immer im Team unterwegs. Während der eine fährt, fungiert der andere als Rangierführer und Einweiser. Es ist ein Job mit viel Verantwortung. Alleine die Loks haben ein Dienstgewicht von 48 Tonnen (V60) bzw. 66 Tonnen (V76). Sicherheit geht deshalb immer vor, insbesondere da bei Zuglängen von bis zu 360 Metern die Sicht nach vorne für den Lokführer nicht gegeben ist. Damit alles reibungslos rollt, muss er sich auf den Rangierführer am Zugende und dessen Anweisungen "blind" verlassen können.
Höchste Konzentration auf den Gleisen
Dicke Schutzkleidung gehört ebenso zum Job wie schwere körperliche Arbeit – und natürlich die Begeisterung für Technik. Nicht zu vergessen die Freude am Draußenarbeiten bei Wind und Wetter. Beide Hände am Fahrhebel und an der Bremse, den Totmannschalter spätestens alle 30 Sekunden intuitiv betätigend, um eine Zwangsbremsung zu vermeiden, spulen Andreas Fürst und Jürgen Stadler im Wechsel auch an diesem Tag Kilometer um Kilometer an Fahrt- und Laufstrecke ab. Immer wieder durchbricht das schrille Pfeifen des Signalhorns das geschäftige Treiben auf dem Werksareal. Zwar ist die Werklok der Platzhirsch auf dem gesamten Betriebsgelände und hat deshalb Vorfahrt vor den Lkws, Pkws und Transportern, dennoch kommt es hin und wieder zu Begegnungen der knapperen Art. Bei einem Bremsweg mit voller Ladung von 60 Metern und mehr ist die Gefahr einer Kollision keinesfalls zu unterschätzen. Der Rangierbetrieb erfordert zu jeder Sekunde die volle Aufmerksamkeit der Werkseisenbahner.
Wenn’s mal wieder länger dauert
Kurz vor der Mittagspause müssen noch drei Waggons mit Stahlbauteilen aufs Abstellgleis der Stahlbauhalle geschoben werden. Es ist das Gleis, das mitten durch die Halle 10 hindurch- und knapp am Kiosk vorbeigeht. Noch ehe sich Jürgen Stadler per Funk meldet, um die Anweisung zum Abbremsen zu geben, sieht Lokrangierführer Andreas Fürst schon den Grund dafür. Deutlich jenseits der weißen Begrenzungslinie, die links und rechts der Gleise verlaufend den Sperrbereich für die sichere Durchfahrt der Werklok kennzeichnet, parkt ein Kleintransporter der Firmengruppe. Dessen Fahrer hat den Abstand falsch eingeschätzt und blockiert jetzt zur Mittagszeit das Gleis. Wertvolle Minuten verstreichen. Gerade als sich Jürgen Stadler auf den Weg macht, den Falschparker im Kiosk ausfindig zu machen, kommt dieser mit seiner Brotzeit auch schon angerannt und braust mit einer entschuldigenden Geste davon. Trotz der Zeiteinbuße quittieren beide Lokrangierführer die Aktion mit einem Lächeln. Dann geht es auch für sie weiter im Eisenbahneralltag. Noch drei Stunden bis zum Arbeitsende und zur anschließenden Übergabe an die Kollegen der Spätschicht. Bis dahin gibt es noch einiges zu tun. Und das heißt: rangieren, rangieren, rangieren ...